Sechs Jahre danach – gegen das Vergessen. Jürgen Wrona zur Fukushima-Mahnwache 2017

Seit dem Tsunami mit der Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima sind genau sechs Jahre vergangen. Ich habe überlegt, welchen Schwerpunkt ich heute setzen könnte. Dazu habe ich mir noch einmal angesehen, was ich in den Vorjahren bei den Mahnwachen am 11. März gesagt habe.

 

Bei der ersten Mahnwache zum Jahrestag habe ich über die politischen Folgen von Fukushima in Deutschland gesprochen – also über das Abschalten von acht Kernkraftblöcken von einem Tag auf den anderen, nachdem die Schwarz-Gelbe-Merkel-Rösler-Regierung kurz vorher noch eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten durchgesetzt hatte. Einige versuchen sich jetzt zu erinnern: Wer war nochmal dieser Rösler? Das ist ein Augenarzt aus Hannover, der mal ein Gastspiel als FDP-Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler gegeben hat. Von Merkels einsamer Entscheidung zum Atomausstieg wurde Herr Rösler kalt erwischt – so kalt erwischt, dass er damals meinte: Wenn es in Deutschland keine Kernenergie mehr gibt, dann brauchen wir aber neue Kohlekraftwerke. Das hätte uns noch gefehlt: Noch mehr überflüssige Kohlekraftwerke und noch mehr dreckiger Kohlestrom, der in Deutschland nicht gebraucht wird, aber die Übertragungsnetze verstopft und verhindert, das Ökostrom eingespeist werden kann. Das hat man davon, wenn ein kurzsichtigen Augenarzt eine Rolle als Bundeswirtschaftsminister bekommt..

 

Ein anderes Mal habe ich über die Risiken der Kernenergienutzung gesprochen. Denn es gibt in Deutschland einige Unverbesserliche, die meinen, eigentlich müsste Deutschland gar nicht aus der Kernenergie aussteigen. Begründung: „Bei uns gibt es doch keine Tsunamis wie in Fukushima.“ Das ist kein Scherz – das ist O-Ton Michael Fuchs, stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion – in Fachkreisen auch „Atom-Fuchs“ genannt. Diese Position ist zum Glück auch in der CDU nicht mehr mehrheitsfähig – aber mit seiner Meinung, die Förderung erneuerbarer Energien sollte abgeschafft werden, steht „Atom-Fuchs“ in der CDU keineswegs allein (sh. auch Aussagen des Paderborner CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Carsten Linnemann).

 

Das letzte Mal habe ich über die Aufräumarbeiten auf dem Kraftwerksgelände in Fukushima gesprochen und über die hilflosen Versuche, Teile der Präfektur Fukushima wieder bewohnbar zu machen. Beides gelingt nur mehr schlecht als recht: Das Kraftwerksgelände bleibt eine radioaktiv verseuchte Sumpflandschaft. Und die ersten Evakuierten sind in ihre Dörfer zurückgekehrt, dürfen aber nichts im Garten anbauen, dürfen keine Landwirtschaft betreiben und dürfen nicht fischen. Draußen darf man sich nur stundenweise aufhalten, weil sonst die Strahlenbelastung zu hoch wird. Und Kinder – wenn sie überhaupt draußen spielen dürfen – müssen das neben Halden mit Plastiksäcken machen, in denen sich mühsam abgekratzter Oberboden befindet. Diese Säcke mit verstrahltem Boden werden dort wohl noch Jahrzehnte bleiben, denn niemand weiß, wohin damit.

 

Erinnern Sie sich noch an die Berichterstattung über das Unglück in Fukushima vor sechs Jahren? Die Tsunami-Tragödie und die Bilder vom explodierenden Kernkraftwerk haben die Menschen weltweit bewegt, erregt und geschockt. Tage- und wochenlang gab es in Zeitungen und im Fernseher kaum ein anderes Thema als Fukushima und die Folgen. Wann haben Sie in jüngerer Vergangenheit noch einen Bericht über Fukushima gesehen oder gehört? Wir müssen feststellen: Fukushima ist vorbei, ist eigentlich kein Thema mehr.

 

Die Kernschmelze in Tschernobyl liegt mehr als 30 Jahre zurück. Auch damals war das ein traumatischer Vorgang. Und auch Tschernobyl geriet irgendwann in Vergessenheit. Erst in Zusammenhang mit Fukushima wurden wieder Erinnerungen an Tschernobyl wach. Und was war noch mal 1957 im britischen Kernkraftwerk Windscale und 1979 auf Three Miles Island an der US-Ostküste? Es hat schon mehrere partielle Kernschmelzen in Atomkraftwerken gegeben, an die sich kaum noch jemand erinnern kann. Mein Thema soll daher – 38 Jahre nach Three Miles Island, 31 Jahre nach Tschernobyl und sechs Jahre nach Fukushima – das Vergessen sein.

 

Der Autor und Fotograf Alexander Tetsch, der bei seinen Reisen in die Präfektur Fukushima das Leben der Atomflüchtlinge dokumentiert, sagt: „Die wahre Katastrophe ist das Vergessen.“ 18.000 Menschen sind durch den Tsunami gestorben oder werden vermisst. Die Krebsrate als Folge der radioaktiven Belastung in der Region steigt von Jahr zu Jahr. Vor allem Leukämie-Fälle häufen sich jetzt. Es gibt 500.000 Atomflüchtlinge in der Region und mehr als 100.000 Menschen leben noch heute in Notunterkünften außerhalb der Sperrzone. Die Menschen vor Ort leiden auch sechs Jahre danach noch, aber sie werden von der Weltöffentlichkeit und auch von ihrer Regierung in Tokio immer mehr vergessen.

 

Auch wir vergessen von Jahr zu Jahr immer mehr. Ein Indiz dafür ist nicht nur die geringe Zahl der Berichte über Fukushima, das lässt sich bei uns z.B. auch an einer deutlich abflachenden Nachfrage nach Ökostrom festmachen. Nach der Fukushima-Katastrophe explodierte die Bereitschaft der Deutschen, auf Atomstrom zu verzichten und zu einem Ökostrom-Anbieter zu wechseln. 81 Prozent aller Neuverträge waren damals Stromverträge mit Ökotarifen. Nach Fukushima stieg die Zahl der Haushalte, die mit Ökostrom versorgt wurden, auf fünf Millionen – soviele wie nie. Doch die Abschlussquote für Verträge mit Ökostromtarifen sinkt seitdem von Jahr zu Jahr und bewegt sich auf 50 Prozent zu. Heute sind es nur noch knapp über vier Millionen Haushalte, die Ökostrom beziehen.

 

Woran liegt das? Liegt das nur daran, dass viele Menschen verunsichert sind, weil sie zwischen echtem Ökostrom (z.B. von Westfalen Wind, Greenpeace, Naturstrom oder Lichtblick) und falschem Ökostrom (z.B. von den Stadtwerken Paderborn) nicht unterscheiden können und verunsichert sind? Liegt es daran, dass viele Menschen glauben, auch normaler Strom sei dank Energiewende doch schon ziemlich „grün“? Oder ist die nachlassende Nachfrage nach Ökostrom vielleicht doch Indiz für ein Vergessen und für ein nachlassendes Bewusstsein?

 

Nach Fukushima bestand große Einigkeit, dass wir eine Energiewende brauchen und dass wir beim Ausbau erneuerbarer Energien einen Zahn zulegen müssen. Und jetzt? Zuerst die Schwarz-Gelbe Koalition und seit vier Jahren die Große Koalition würgt Ökoenergien ab. Zuerst waren Bioenergien und die Photovoltaik dran und jetzt wird auch die Windenergie ausgebremst. Es ist längst klar, dass die Bundesrepublik ihre Klimaschutzziele verfehlen wird und ihre Zusagen beim Pariser Klimagipfel nicht einhalten kann. Doch was sagt der Chef der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, bei einer Fachtagung hier in Paderborn: „Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist keine Erfolgsgeschichte, sondern ein Teil des Problems.“ Herr Homann wurde übrigens noch von einem gewissen Herrn Rösler ins Amt gehoben. Ohne dass die Öffentlichkeit es richtig begriffen hat, hat die Politik längst eine schleichende Wende von der Energiewende eingeleitet. Wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland in diesem „Schneckentempo“ weitergeht, reden wir noch in 50 Jahren über die Energiewende.

 

Der 11. März gibt alljährlich Anlass, die Entwicklung bei uns kritisch zu reflektieren und sich zu erinnern – an den Tsunami an der japanischen Küste mit seinen Folgen, an die 18.000 Toten, an die 500.000 Atomflüchtlinge, an die 100.000 Menschen, die noch heute in Notunterkünften leben müssen, an die Menschen, die in eine unwirkliche Sperrzone zurückkehren und an die Arbeiter, die auf dem Kraftwerksgelände versuchen, die Folgen einer verantwortungslosen Energiepolitik zu überwinden.

 

Wir dürfen nicht vergessen.

 

11. März 2017

Jürgen Wrona (Delbrück) für die Initiative Paderborn 100 Prozent erneuerbar