Daniel Freund: Europa mit den Bürger*innen wieder in Bewegung bringen

Am vergangenen Mittwoch wurde in Strasbourg ein Stück Europäische Geschichte geschrieben. Zusammen mit Abgeordneten der fünf größten pro-europäischen Fraktionen haben wir einen Reformfahrplan für die Europäische Union vorgelegt. Damit bringen wir jetzt aus dem Europäischen Parlament erstmals EU-Vertragsänderungen auf den Weg. Und die haben es in sich: Mehr Demokratie, mehr Bürger*innenbeteiligung, mehr Europäische Sicherheit und weniger Erpressbarkeit durch Autokraten.

Dieser Bericht ist das Resultat von vier Jahren harter politischer Team-Arbeit. Ohne starken Grünen Rückenwind, ohne eine starke Europäische Zivilgesellschaft, ohne eine neue Form der Europäischen Bürger*innenbeteiligung, ohne Euch wäre es nie so weit gekommen. 2019 haben wir im Wahlkampf versprochen „Kommt, wir bauen das neue Europa!“ Dem sind wir jetzt ein gutes Stück näher!

Europa wieder in Bewegung bringen – Mit den Bürger*innen

Die letzte EU-Reform liegt mittlerweile 15 Jahre zurück. Der Vertrag von Lissabon aber konnte wichtige Fragen der deutlich erweiterten EU nicht beantworten. Zentrale Konstruktionsfehler konnten nicht behoben werden. Allen voran: Das Einstimmigkeitsprinzip. Ja, Europa hat in den 15 Jahren eine Reihe Krisen gemeistert. Aber Europas Antworten waren oft zu wenig, kamen spät oder am Europäischen Parlament vorbei zustande. Die Verhandlungen über Russland-Sanktionen haben gezeigt, wie schamlos Ungarns Premier Viktor Orban sein Veto nutzt, um Sanktionen gegen Putins Handlanger abzuschwächen, um EU-Gelder zu erpressen, um Europa außenpolitisch lahmzulegen. Das Einstimmigkeitsprinzip ist ein Sicherheitsrisiko für Europa.

Herzkammer der EU-Erneuerung

Doch wie bringt man Bewegung in ein Europa, dessen Integration in so vielen Bereichen auf halbem Wege stecken geblieben ist? Wir haben geschaut, wie das andere machen. Die Iren haben mit Bürger*innenräten und Referenden gezeigt, dass beim Recht auf Abtreibung und der Ehe für alle die Bürgerinnen den Durchbruch gebracht haben, wo Parlament und Regierung viele Jahre nicht weiter kamen. Also habe ich ein vergleichbares Format für die EU vorgeschlagen. Zusammen mit der grünen Staatsrätin Gisela Erler aus Baden-Württemberg haben wir eine Idee weiterentwickelt, die die Grünen seit Jahren sehr erfolgreich anwenden. Als Mitglied im Präsidium der Zukunftskonferenz konnte ich die Idee real werden lassen. Die Bürger*innen-Räte sind zur Herzkammer der EU-Erneuerung in der Zukunftskonferenz geworden. Ich war beeindruckt in Straßburg dabei sein zu können, als 800 zufällig ausgeloste Bürger*innen diskutierten, stritten und am Ende mehr als 200 ganz konkrete Politikvorschläge für ein neues Europa vorlegten.

Die Reihen der Pro-Europäer im Europaparlament geschlossen halten

Diese Vorschläge der Bürger*innen waren für uns im Europaparlament zentrale Grundlage. Wir haben mit Konservativen, Sozialdemokraten, Liberalen und Linken eine Allianz geschmiedet und die Forderungen der Bürger*innen in konkrete EU-Vertragsänderungen übersetzt. Es war mir in den Verhandlungen immer wichtig, die Pro-Europäer*innen zusammen zu halten. Denn nur mit einem geeinten Europaparlament können wir den nötigen Druck entwickeln. Zusammen mit der grünen Außenministerin und Europa-Staatssekretärin gilt es jetzt eine Mehrheit unter den Regierungen der Mitgliedstaaten zu überzeugen. Denn wir wollen einen neuen EU-Konvent einberufen. Dafür haben wir jetzt also 140 Seiten mit konkreten Änderungsanträgen für Europas Zukunft vorgelegt. 140 Seiten, in denen wir gefochten haben um ein demokratischeres, ein robustes Europa. 140 Seiten, die den Auftrag der Bürger*innen an uns bekräftigen, Europa zu verbessern.

Mehr Demokratie, mehr Sicherheit, mehr Europa: Die Kernelemente

  • Mehrheiten entscheiden, statt mit Vetos blockieren: Nationale Vetos im Rat sollen fast komplett abgeschafft werden, auch bei Steuern, dem EU-Haushalt und der Außenpolitik.
  • Ein starkes Parlament als Herzstück der Europäischen Demokratie: Das Parlament würde gleichberechtigt mit dem Rat beim Beschluss über den Haushalt. Das Parlament soll Gesetze vorschlagen oder abschaffen können.
  • Stärkere Verbindung von Europawahl und Kommission: Die Kommission würde stärker vom Parlament und damit von den Wählerinnen und Wählern gewählt werden und soll künftig „Regierung“ heißen. Die Präsidentin soll vom Parlament vorgeschlagen und vom Rat bestätigt werden. Statt 27 Kommissaren (vorgeschlagen von den Mitgliedstaaten) sollen 14 von der Präsidentin dem Parlament vorgeschlagen werden. 
  • Europas Werte verteidigen: Sanktionen gegen Regierungen, die EU-Grundwerte verletzen, sollen vereinfacht werden. Der Europäische Gerichtshof soll entscheiden, ob Grundwerte verletzt werden, der Rat soll dann mit Mehrheit Sanktionen verhängen können.
  • Europa stark, wo es nötig ist: Als Konsequenz aus der Corona-Krise, wird Gesundheit geteilte EU-Kompetenz. Die EU darf auch im Bildungsbereich Mindeststandards setzen. Diskriminierung kann leichter gesetzlich verboten werden. Alle neuen EU-Gesetze unterliegen einer Klimaneutralitätsklausel. 

Wie es jetzt weitergeht und was ihr tun könnt

Der Verfassungsausschuss (AFCO) stimmt den Berichtsentwurf am 19. Oktober ab. Das Plenum dann im November. Da der Bericht parteiübergreifend geschrieben wurde, ist eine Mehrheit im Europaparlament wahrscheinlich. Um unserem Traum von der Föderalen Republik Europa näher zu kommen, liegt aber noch viel politische Arbeit vor uns. Um einen EU-Konvent einzuberufen, brauchen wir eine einfache Mehrheit unter den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, 14 von 27. Die haben wir aber noch nicht erreicht. Deswegen brauchen wir gerade jetzt mutige, starke Regierungen, die vorangehen. Genau heute stellt eine deutsch-französische Expert*innen-Gruppe sehr hilfreiche Vorschläge vor, die ihr HIER findet.

Dabei hilft uns jede Unterstützung! Bitte macht in Euren Kommunen, Ländern, EU-Mitgliedstaaten deutlich, dass die EU-Reform nicht länger auf die lange Bank geschoben werden kann. Wer weiß, wer als nächstes im Weißen Haus sitzt? Wer weiß, wann die nächste große Krise kommt? Wir sollten Europa JETZT demokratischer und widerstandsfähiger machen und die Empfehlungen der Bürger*innen aus der Zukunftskonferenz auch umsetzen.